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Literarischer Gastbeitrag: Die Mutprobe

Eintrag vom 30. September 2019

Die Sonne kitzelte ihn an der Nasenspitze. Es war so ein wundervoller Tag und er konnte das rauschende Geäst sogar durch das verschlossene Fenster hören, als er blitzschnell die Augen aufschlug.

Beinahe hätte der Junge vergessen, was ihm bevorstand. Ein unangenehmes Ziehen machte sich in seinem Bauch breit. Am liebsten würde er diesen Tag einfach überspringen, weiterschlafen und morgen wieder aufwachen. Denn heute war die große Prüfung, die Mutprobe, an die er sich für den Rest seines Lebens erinnern würde. Die „L’École d’éducation“, wie sie sich stolz nannte, war eine erzieherische Anstalt für schwierige Kinder. Der Junge war sich sicher, dass er nichts auf dieser Schule verloren hatte, aber seine Heimleiterin sah das anders. Eine rauhe Stimme ertönte: „Maxim, kommst du jetzt, oder hast du Schiss?“ Luc grinste blöd. „Ich komme gleich“, murmelte er. Luc verschwand. „Beeil dich“, fügte er noch hinzu und rannte mit schnellen Schritten voraus. Maxim warf sich eine Jacke über und zog seine abgeranzten Schuhe über. Er wusch sich einmal durchs Gesicht und folgte Luc mit einem unguten Gefühl nach draußen. Vorne wartete der Rest der Gruppe, alle grinsten hämisch. „Lass und gehen, Mäxchen, wir müssen rechtzeitig wieder hier sein, bevor die Alte uns erwischt“, sagte Lars und befahl ihm mit einem Armwink ihm zu folgen. Nach einem Fußmarsch, der Maxim viel zu kurz vorkam, waren sie da. Sie standen vor einer großen Klippe. Felsen ragten aus dem Wasser, das eisig vorbei rauschte. „So, jetzt spring!“, sagte Lars. Maxim zögerte, bevor er seine Schuhe und die Jacke auszog. Er wollte nicht springen, aber wenn er jemals zu dieser Gruppe gehören wollte und nicht den Rest seiner Zeit ausgelacht und nicht ernst genommen werden wollte, musst er es wagen. „Komm schon, wir haben es auch alle gemacht und trotzdem überlebt“, hörte er Luc sprechen. Ein letztes Mal sah er nach unten auf die dunkelgrauen Felsen. Er wippte hin und her, nahm all seinen Mut zusammen und sprang. Der Wind pfiff an ihm vorbei, sein Herz raste. Er öffnete die Augen und sah zum ersten Mal ein wenig grünes Moos an den Felsen wachsen. 

von Zoë Rüter, Jahrgang 10

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