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PRESSE: Schwere Kost: Hiller Schüler setzen „Nichts“ großartig um

Eintrag vom 5. Dezember 2016

Kerstin Rickert am 04.12.2016

Hille (kr). Um es mit dem Titel ihrer Theateradaption von Janne Tellers Roman auszudrücken: Nichts hätten die Schüler des Q2-Literaturkurses der Verbundschule Hille anders machen sollen.

Und nichts hätten sie besser machen können, um ihrer Arbeit mehr Bedeutung zu verleihen. Ein Jahr lang hatten sie sich vorbereitet und den nicht unumstrittenen Roman der dänischen Autorin Teller in eine Theaterfassung gebracht. Schwere Kost hatten sie sich vorgenommen. Was sie daraus machten, welche Mittel sie einsetzten, um den Inhalt höchst wirkungsvoll zu transportieren, und mit welch großartiger schauspielerischen Leistung sie „Nichts“ bedeutungsschwer umsetzten, dafür gebührt ihnen größter Respekt.

Ich-Erzählerin Agnes (Liv-Sophia Gieseking) erzählt eine dramatische Geschichte, die sich vor acht Jahren in ihrer Schulklasse in dem fiktiven dänischen Örtchen Taering zugetragen hat. Pierre Anthon (Julian Horstmann) schockiert seine Mitschüler, als er nach den Sommerferien plötzlich den Unterricht verlässt. „Nichts bedeutet irgendetwas. Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.“ Mit diesen Worten verzieht er sich auf einen Pflaumenbaum, um seine Mitschüler fortan mit Worten zu traktieren, die ihnen die Sinnlosigkeit ihrer Existenz vor Augen führen sollen. Aufgebracht beschließt die Klasse, Pierre Anthon zu zeigen, was wichtig ist im Leben.

In einem stillgelegten Sägewerk tragen sie einen „Berg der Bedeutung“ zusammen. Jeder Einzelne soll ein Opfer bringen, etwas abgeben, das ihm wichtig ist. Was noch recht harmlos beginnt, entwickelt sich bald zu einer Zerreißprobe für die ganze Klasse. Die persönliche Bedeutung dessen, was sie abgeben sollen, wiegt offenbar schwerer, als es für die anderen zunächst den Anschein hat. Immer größere Opfer von einem seiner Mitschüler verlangt derjenige, der gerade ein Opfer bringen musste.

Von dem gläubigen Kai (Jona-Frederik Baumert) wird das antike Rosenholzkreuz aus der Kirche des Ortes gefordert. Als Elise (Celine Demann) ihren toten Bruder opfern muss, der von ihren Mitschülern aus seiner letzten Ruhestätte gegraben wird, ist die Grenze längst überschritten. „Das geht zu weit. Das ist zu viel. Das geht nicht“, versuchen sich die Schüler gegen die immer dreisteren Forderungen ihrer Mitschüler zu wehren. Doch der Berg hat offenbar noch lange nicht genug Bedeutung.

Die Muslimin Leyla (Luisa Kollmeyer) muss ihren Gebetsteppich opfern, Marie-Ursula (Katharina Reiß) ihre geliebten Zöpfe lassen. Jan-Johan (Luca Kammann) verlangt von Rosa (Soraya Ketteler) den Kopf vom Hund des alten Sörensen. Rosa wiederum bestimmt in ihrer Wut, dass Sofie (Lynn-Sofie Depping) ihre Unschuld für den „Berg der Bedeutung“ genommen werden soll. Eine Szene, die die Jugendlichen als Schattenspiel großartig umsetzen. Jan-Johan wird ein Zeigefinger abgehackt, so dass er nicht mehr Gitarre spielen kann. Das alles geschieht, „um Pierre Anthon zu beweisen, dass nicht nichts von Bedeutung ist“. Der wird schließlich selbst zum Opfer und von seinen Mitschülern gelyncht, nachdem der Opferberg entdeckt wurde und die Situation eskaliert.

Mit ihrem im Jahr 2000 erschienenen und als Jugendbuch eingestuften Roman „Nichts“ mit dem Untertitel „Was im Leben wichtig ist“ hat Janne Teller heftige Diskussionen ausgelöst. Ein den Nihilismus derart thematisierendes Buch sei für Jugendliche ungeeignet, urteilten Kritiker. In einigen Ländern wurde Tellers Roman für den Schulunterricht verboten.

Der Literaturkurs hat aus diesem Stoff ein großartiges Theaterstück geschaffen. Geradezu brillant schlüpften sie in ihre Rollen und begeisterten durch die Intensität ihrer von Wut und Rachegefühlen getriebenen Dialoge und Selbstgespräche, die sie sich selbst auf den Leib geschrieben hatten. Mit beeindruckender Licht- und Videotechnik wurde die Darbietung in ihrer Dramatik intensiviert. Den Widersacher Pierre Anthon von einem Gerüst mitten in der Schulaula aus dem Off sprechen zu lassen: einer der vielen wunderbaren Regieeinfälle. Insgesamt lebte die Aufführung von einer Ausdrucksstärke, die sich hinter weitaus professionelleren Theaterproduktionen nicht verstecken muss. Ohne die großartige Leistung aller Bezeigten schmälern zu wollen, sei hier besonders Jona-Frederik Baumert in der Rolle des Kai hervorgehoben. Sein minutenlanger philosophischer Monolog über Religion war einer der Höhepunkte in diesem rundum gelungenen Bühnenwerk über den Sinn des Lebens. Große Klasse.

Copyright © Mindener Tageblatt 2016

 

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